Mädchengruppe und männliche Trainer - ein Problem und eine Lösung

Kooperationsmodell Karate-Schulgruppe - Erziehungsberatungsstelle



Der Anlaß: Unterschiedliche Bedürfnisse in einer Trainingsgruppe aus Jungen und Mädchen

Die Karategruppe am Michaeli-Gymnasium in München, die jetzt fast zwanzig Jahre besteht, weist seit ihren Anfängen einen hohen Mädchenanteil - bis zu 60 % - auf. Daß Jungen und Mädchen gemeinsam trainieren (koedukatives Training), bietet durchaus positive Ansätze:

Jedoch mußte im Selbstverteidigung-Teil des Trainings der Trainer neben der allgemeingültigen Technikvermittlung regelmäßig auf sehr verschiedenartige geschlechtsspezifische SV-Situationen eingehen, und für sehr unterschiedliche Gefährdungssituationen der Jungen und Mädchen Lösungsmöglichkeiten und Strategien anbieten.

So ist für Jungen z.B. eine häufig vorkommende streßbesetzte Situation, daß sie von einem oder von einer Gruppe Jungen provoziert oder angegriffen werden. Es geht meist um Rangkämpfe bzw. den Versuch, durch Aggressivität das eigene Ego auf Kosten eines anderen "aufzuwerten".

Diese Art von Auseinandersetzungen sind unter unseren Mädchen eher selten bzw. werden auf andere Weise ausgetragen: Mädchen erleben im Alltag überwiegend Übergriffssituationen, in denen sie verdeckt oder offensichtlich sexuell belästigt werden und gegen die sie - bis hin zu einem möglichen tätlichen Angriff - sich behaupten müssen. (In der jüngsten Vergangenheit hatten z.B. an zwei Münchner Schulen Schulfremde in der Schultoilette ein Mädchen vergewaltigt bzw. es versucht.) Gerade das sind aber Situationen, die viele junge Mädchen nur verhalten oder gar nicht mit einem männlichen Trainer bzw. in Gegenwart der männlichen Gruppenmitglieder erörtern können oder wollen, wenn mögliche Selbstverteidigungsfälle besprochen werden.

So erfuhr ich z.B. erst viel später von Eltern, daß Mädchen der Karategruppe in der Nähe der Schule von einem Exhibitionisten belästigt worden waren. Sie hatten jedoch von dieser Bedrängungssituation mir als Trainer und Lehrer - trotz eines durchaus bestehenden Vertrauensverhältnisses - nicht erzählt.

Die Problematik: Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungstraining für Mädchen und Frauen durch einen männlichen Trainer?

Selbstverständlich gibt es so etwas wie eine Allgemeingültigkeit für die Technikvermittlung: Fauststoß ist Fauststoß, wer immer ihn ausführt oder lehrt. Die Problematik liegt eher im Psychologischen, im Beziehungssystem zwischen männlichem Trainer und weiblichen Gruppenmitgliedern.

Hier sollte sich jeder männliche Trainer einer gemischten Trainingsgruppe - beides bei Trainingsgruppen im Bereich des Deutschen Karate Verbandes noch der Regelfall -, aber auch jedem Trainer, der in seinem Dojo Frauenselbstverteidigung anbietet, mit einer Reihe von Fragen aufrichtig auseinandersetzen. Zum Beispiel:

Der Lösungsversuch: Das Kooperationsprojekt Schul-Karatetrainer - Erziehungsberaterin

Um einerseits den Gegebenheiten - es steht am Michaeli-Gymnasium nur ein männlicher Karatetrainer zur Verfügung - und andererseits den Interessen der Mädchen besser Rechnung zu tragen, wurde Kontakt mit der für die Schule zuständigen Erziehungsberatungstelle (SOS-Familienzentrum Neuperlach) aufgenommen.

Eine Sozialpädagogin mit Erfahrung in der Durchführung von Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskursen für Mädchen konnte für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. Das folgende Programm wurde gemeinsam entwickelt und durchgeführt:

Leitlinien:

Rahmenbedingungen des Projektes waren ein geschützter, etwas abgelegener, nicht einsehbarer Raum der Schule, der den Gruppen während des ganzen Projektes zur Verfügung stand. Weitere Voraussetzungen, um einen vertrauensvollen Umgang in der Gruppe zu gewährleisten, waren

Die Mädchen wurden - um intensiver und altersspezifisch arbeiten zu können - in zwei Kleingruppen von 7 bzw. 8 Mädchen aufgeteilt, wobei die eine Gruppe aus 12-13-Jährigen, die andere aus älteren Mädchen bestand.(Grund für die Altersgruppen sind die entwicklungsbedingten unterschiedlichen Interessen und Erfahrungssituationen)

Zeitlicher Ablauf:

Nach einem ersten Gespräch der Erziehungsberaterin mit den interessierten Mädchen fand ein Elternabend statt, in dem die Eltern der beteiligten Mädchen über Zielsetzung und Vorgehensweise des Projektes informiert wurden und mit ihnen Einverständnis hergestellt wurde. Jede Gruppe arbeitete an je 5 Terminen je anderthalb Stunden mit der Erziehungsberaterin (die eine Gruppe vor und die andere nach den Weihnachtsferien); wer nicht an einer Gruppe teilnahm, besuchte in dieser Zeit den zeitgleich stattfindenden Karateunterricht.Gemeinsamer Abschluß für beide Gruppen zusammen bildete ein"reality-training". Mit den Eltern wurde ein abschließender Elternabend zur Auswertung und Besprechung möglicher Weiterentwicklungen abgehalten.

Inhalte:

Die Inhalte des Selbstbehauptungskurses sollen hier nur umrissen werden; Stundenbilder bzw. Verteilung und Aufbau der Stundeninhalte finden sich in der angegebenen Literatur, insbesonders bei Chr. Lichthardt," Laut(er) starke Mädchen". Neben Aufwärmspielen, Meditations-und Entspannungsübungen standen vor allem Atem- und Schreiübungen, sowie Gespräche und Rollenspiele zu den Themen "angenehme/ unangenehme Gefühle und Berührungen","gute und schlechte Geheimnisse", "Grenzen setzen", "Nein-Sagen", "Beratung und Hilfe holen" im Mittelpunkt.

Techniken der Selbstverteidigung, z.B. Fallübungen, Angriffs- und Abwehrtechniken waren den Mädchen zum Großteil schon aus dem Karateunterricht bekannt oder wurden in ständiger Absprache mit der Erziehungsberaterin dort eingebaut bzw. vertieft. Aufgrund der Rückmeldungen durch die Kursleiterin und die Mädchen selbst wurde das Selbstverteidigungstraining in der Halle zielgerichteter und durch dieses Feedback-Prinzip somit letzten Endes effektiver.

Besonders aufschlußreich in dieser Hinsicht war das gemeinsame, abschließende "reality-training": Typische Streß-Situationen (Angriff auf der Toilette, nächtliche Verfolgung, Anmache an der Bushaltestelle) wurden in realer Umgebung mit männlichen Partnern so realistisch wie möglich und vertretbar durchgespielt. Die Reaktionen der Mädchen , die gemeinsam mit den "Angreifern", der Kursleiterin und dem Karatetrainer nachbesprochen wurden, gaben deutliche Hinweise auf individuelle Stärken bzw. noch bestehende Blockaden, bestärkten erlernte Handlungsalternativen bund vertieften sie.

Ergebnisse:

Hier werden sicherlich Erfahrungen sowie Einstellungs- und Wahrnehmungsveränderungen in Bezug auf den Umgang mit Frauen/Mädchen mit eingebracht werden, die sich für den Karatetrainer aus der Arbeit am Mädchenprojekt ergaben.

Abschließend ist anzumerken, daß die am Projekt teilnehmenden Mädchen danach im "normalen" Karatetraining eine z.T. deutliche Steigerung ihres Selbstvertrauens z.B. im Umgang mit Jungen als Partner zeigten. Sie brachten das Gelernte in Selbstverteidigungs-übungen ein und waren besser imstande, die Effektivität von Abwehrmaßnahmen einzuschätzen.

Allgemeine Konsequenzen für das Selbstverteidigungstraining mit Frauen und/oder Mädchen:

Für Trainingsgruppen, bei denen Frauen bzw. Mädchen von einem männlichen Trainer in Selbstverteidigung ausgebildet werden, sollte aufgrund der Erfahrungen dieses Projektes folgendes gewährleistet sein:

Es geht einerseits darum, was er an Inhalten anbietet: z.B. Überprüfung auf Eignung und tatsächliche Anwendbarkeit z.B.von Abwehrtechniken, die intensives Training oder großen Kraftaufwand erfordern, oder für Mädchen oder Frauen psychologische Hemmschwellen enthalten (z.B. zu intimer Körperkontakt).

Andererseits muß ein Trainer versuchen, wahrzunehmen, wie seine Art zu unterrichten, "ankommt" oder ob er durch seinen Führungsstil gegenüber Frauen u.U. möglicherweise einen Trainingserfolg in Frage stellt. Dazu gehören auch notwendige Differenzierungen innerhalb der Trainingsgruppe.

Es handelt sich dabei um Maßnahmen, auf die die Mädchen oder Frauen, die wir trainieren, einen berechtigten Anspruch haben. Gleichzeitig erhöhen sie insgesamt die Effektivität des Trainings und damit die Fähigkeit der Teilnehmerinnen, sich im Ernstfall auch wirklich verteidigen zu können: also eine Frage unserer Verantwortung als Trainer.

Informationen und Hinweise zur Praxis und Theorie des Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstrainings für Mädchen und Frauen finden sich z.B. bei:

Andreas Schölz, StD
ehem. Schulsportreferent Deutscher Karate Verband
ehem. Schulsportreferent Bayerischer Karate Bund

Ingo @verdunk
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